Śrī Jagannātha und Kapitän Beatle


Das Schiff hatte Candanapura bereits verlassen und befand sich nun einige Meilen in der Meeresbucht von Bengalen. Der erste Maat beobachtete mit seinem Fernrohr das Meer. Plötzlich richtete er seinen Blick auf einen bestimmten Punkt. War das ein riesiger Wal oder irgendein gigantisches Seemonster, das in der Lage wäre, das ganze Schiff zu verschlingen? Es war erstaunlich. Das bloße Klatschen mit der Schwanzflosse könnte das Schiff in tausend Stücke zerschmettern. Der Maat bemerkte, daß das Schiff auf die sonderbare Kreatur zusteuerte. Man mußte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um einer Katastrophe zuvorzukommen.

Ohne zu zögern, rief er: „Kapitän! Alarm!“ Der französische Kapitän war gerade in der Kommandozentrale in die Karte vertieft, auf der der Kurs des Schiffes verzeichnet war, als er den Ruf hörte. Er stürmte etwas erstaunt heraus. „Was ist das Problem?“ fragte er. Wortlos zeigte der Maat mit seinem Finger zum Wal. Kapitän Beatle beobachtete den sich nahenden Wal mit seinem Fernglas. Zu allem braute sich am Horizont noch ein Sturm zusammen. Der Wind blies und zerrte bereits an den Segeln.

Der Kapitän dachte zuerst, die Rettungsboote zu wassern. Aber konnte man bei diesen Windverhältnissen mit den kleinen Booten überhaupt bis an Land gelangen? Es könnte zu großen Verlusten kommen. Der Kapitän erkannte den Ernst der Lage, doch wurde er von einer gewissen Hilflosigkeit befallen. Große Wellen ließen das Meer anschwellen und schwarz werden. Je mehr er die Gefahr näherkommen sah, umso mehr fürchtete er sich. Er wußte überhaupt nicht, was er unternehmen sollte.

Schließlich entschied er sich, daß das einzige, was er tun konnte, sei, die Alarmglocke zu läuten. Er rief der Mannschaft zu, für sich selbst zu schauen. Es gab keine Möglichkeit, das bevorstehende Desaster abzuwenden.

Das französische Schiff war zwei Monate zuvor in Frankreich Richtung Pondicherry in Südindien ausgelaufen. Es sollte eine Routinereise werden. Mitte des 17. Jahrhunderts gab es einen regen Gewürzhandel, wie beispielsweise von Kardamom, Nelken und Zimt, zwischen Indien und Europa. Für das Schiff blieben nur noch einige Tage, bis es Pondicherry erreichen würde. Der Kapitän sinnierte traurig: „Wenn ich jetzt den nächsten Hafen Baruṇa sehen könnte, ich wäre so glücklich. Er würde so schön und einladend aussehen. Wie wünsche ich mir, diese schreckliche Gewalt des Sturms hinter uns lassen zu können. Dann müßten wir nur noch dreimal Halt machen, bis wir in Madras und Pondicherry angekommen sind.“

Die meisten Mannschaftsmitglieder und Passagiere auf dem Schiff waren Franzosen. Sie wollten alle zur kleinen französischen Siedlung Pondicherry, unweit im Süden von Madras, reisen. An Bord befand sich eine besondere Glocke für die Kirche in Pondicherry. Nachdem die Fracht auf dem Schiff in Pondicherry ausgeladen worden war, würde es nach Frankreich zurückkehren.

Kapitän Beatle rannte nun inmitten des Sturms verzweifelt auf dem Schiff umher. Er war von beängstigten Passagieren umgeben. Jede Hoffnung, selbst die Frauen zu retten, war gering. Beatle war ein erfahrener Schiffskapitän, der über achtzehn Jahre auf See verbracht hatte. Doch jetzt war er vollkommen verwirrt. Plötzlich rannte eine Frau auf ihn zu und flehte ihn an: „O Kapitän, mir macht’s nichts aus, zu sterben, aber bitte retten sie mein Kind!“ Das Kind war von einer engelhaften Erscheinung, etwa ein Jahr alt, und es schaute albern seine Mutter an, ohne zu verstehen, was vor sich ging. Dem Kapitän kullerten Tränen die Wangen hinunter, und der Säugling begann, zusammen mit seiner Mutter, zu weinen. Der Kapitän war außer sich und fand keinen Weg, die beiden zu trösten. Der Schatten des Todes schwebte über allen – der Übergang vom Leben zum Tod schien mit Gewalt stattzufinden. Alle waren in Panik. Manche weinten und schrien, andere unternahmen irgend etwas, um ihr Leben zu retten. Es verblieben nur einige wenige Augenblicke bis zum unvermeidbaren Ende.

Nur ein Mann saß ruhig und ohne Furcht da. Er schaute auf ein Bild seines geliebten Herrn und hielt es nahe bei seinem Herzen, während er etwas vor sich hinflüsterte. Sein Geist war auf das Bild ausgerichtet. Er war ein alter indischer Herr, der im letzten Hafen an Bord gekommen war. Kapitän Beatle war nun schon einige Male an ihm vorbeigeeilt und hat ihn kaum bemerkt. Das Schiff sollte demnächst vom Sturm zerschmettert werden. Kapitän Beatle rannte auf das Oberdeck des Schiffes und schnappte sich das Fernglas von einem Matrosen, so daß er selbst das nahende Unglück sehen konnte. Er murmelte zu sich: „O lieber Gott, wir sind so nah beim todbringenden Wal! Was für ein grauenvoller Anblick!“ Er fühlte sich, als würde das Blut in seinen Adern gefrieren, als er sah, wie sich der Tod unaufhaltbar näherte. Es blieb nur noch die Berührung des Todes, die auf ihn wartete.

Die Verwandten des Kapitäns lebten alle im entfernten Europa, und es überfiel ihn eine lähmende Hoffnungslosigkeit. Er war unfähig, überhaupt noch zu handeln. Dann schweifte sein Blick wieder zum alten Mann, der immer noch inmitten der Verwirrung und Panik einfach nur dasaß. Kapitän Beatle beugte sich hinunter, um das Bild zu sehen, das der alte Mann in seinen Händen hielt. Es war ein handgemaltes Bild, das drei Gottheiten, die dicht beieinander saßen, darstellte. Eine war schwarz, eine gelb und die dritte weiß. „Die Augen der schwarzen Gottheit schauen so groß und furchterregend aus“, dachte der Kapitän, „sie erinnern mich an jene des Wals – zwei große Augen in einem schwarzen Gesicht, die dich direkt anstarren. Sie sind so markant und überwältigend.“

„Was tun Sie hier?“ schrie der Kapitän. Der arme Herr richtete sich auf und schaute ihn an. Beide Augen waren mit einer Träne geschmückt.

„Ich bete zu Śrī Jagannātha, daß er uns vor dieser Katastrophe rettet“, sagte er ruhig.

„Jagannātha? Wer ist Er? Wo ist Er? Was kann Er für uns tun? Kann Er den Wal mit einer Waffe töten? Kann Er das Schiff retten?“ erwiderte der Kapitän.

Der Hauch eines Lächelns erschien auf dem furchigen Gesicht des alten Mannes. Er war seelenruhig und gesammelt in diesem Augenblick des nahenden Unglücks. „Śrī Jagannātha ist meine einzige Zuflucht. Jegliche Art der Gefahr wird beseitigt, wenn man zu Ihm betet“, sagte der alte Mann nun leidenschaftlich, „Er antwortet uns Menschen auf menschliche Weise. Sein Mysterium ist selbst für Devas und ganz zu schweigen für uns Menschen, unergründlich. Und trotzdem, wenn wir Ihn rufen, erscheint Er und hilft uns.“

„Kann Er unser Schiff vor den Klauen des Todes retten?“ fragte der Kapitän ungläubig.

„Er wird das Notwendige tun. Das ist Seine Wirkungsweise“, antwortete der Mann einfach.

„Welche Macht besitzt dein Gott, um dies tun zu können? Kann Er als Kraft handeln, die über die Naturgewalten herrscht?“ fragte der Kapitän. „Wenn Er das Schiff retten kann, bringe ich Ihm alle Schätze und auch mich selbst dar!“

Der alte Mann wandte sich wieder seinen Gebeten zu. Der Kapitän rannte zum Oberdeck und zu seinem großen Erstaunen sah er, wie der Wal seine Schwimmrichtung geändert hat! Der Wal schwamm ins offene Meer hinaus. Je länger der Kapitän dies beobachtete, umso mehr war sein Gesicht von Erstaunen ergriffen. Doch immer noch wurde das Schiff vom Sturm hin und hergeworfen. „Eine Gefahr ist gebannt, doch eine andere ist noch mit ihr ganzen Wucht da“, dachte der Kapitän. Es schien, als würde das Schiff im nächsten Augenblick vernichtet werden. Das eigenartige Bild in den Händen des alten Mannes tauchte vor Kapitän Beatles Augen auf. Dann betete er: „O Jagannātha, Du hast den Wal vertrieben. Doch bist Du auch in der Lage, den Sturm zu bändigen?“

Da ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag und ein Blitz durchzog den ganzen Himmel. Es war so heftig, daß es schien, die ganze Welt würde zerstört werden. Doch auf einmal verzog sich der Sturm, und das Schiff war gerettet. Der Kapitän verkündete mit einer fröhlichen und von Freude überbordenden Stimme: „Wir sind gerettet! Wir sind gerettet! Geht an die Arbeit! Gott hat uns vor allen Gefahren gerettet!“ Der Kapitän eilte zum alten Mann und umarmte ihn innigst. Der alte Mann betete immer noch zu seinem Bild von Jagannātha. „Der Herr des Universums hat unsere Gebete erhört“, sagte er einfach. Ein gütiges Lächeln erschien auf dem müden und von der Zeit gekennzeichneten Gesicht des alten Mannes. Tränen füllten die Augen des Kapitäns und seine Stimme stockte: „Niemand ist deinem Gott fremd. Er beschützt alle als Seine eigenen.“ Nachdem Kapitän Beatle dies gesagt hatte, ordnete er an, daß alle Diamanten, wertvollen Edelsteine, Goldschmuck und selbst die alte französische Kirchenglocke aus dem Lagerraum des Schiffes geholt und zum Tempel des alten Mannes gebracht werden. Dann verkündete er vor allen: „Unser Schiff wurde durch die Gnade Gottes gerettet.“ Er beobachtete glücklich, wie die Schätze aus dem Lagerraum geholt wurden und fragte: „Haben sie im Tempel genügend große Räume, wo sie diese Schätze für den Herrn lagern können?“

Das Schiff segelte wieder mit voller Kraft voraus. Kapitän Beatle rannte zum Oberdeck, um zu schauen, ob Land in Sicht war. Die Spitze eines riesigen Tempels, der wie ein blauer Berg aussah, war klar erkennbar. Sein Maat sagte ihm: „Das ist das irdische Heim von Śrī Jagannātha in Purī.“ Kapitän Beatle senkte als Zeichen der Achtung zum Herrn den Kopf.


Jaya Jagannātha!

Selbst heute noch kann man die französische Kirchenglocke im alten Hof der ursprünglichen Tempelamtsstube, die als Garad bekannt ist, sehen.

Quelle: Khuntia, Somanātha - The Lilas of Lord Jagannatha