Kṛṣṇas Spiel als Dāmodara
(Aus dem Buch Kṛṣṇa Caitanya – Sein Leben und Seine Lehre von Walter Eidlitz)

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Schon ganz zu Anfang des Bhāgavatam (1.1.2) wird gesagt, daß Bhagavān durch den höchsten Dharma (die dienende erkennende Gottesliebe, die Premabhakti) schnell im Herzen gebunden wird.

In größter Lebendigkeit und Eindringlichkeit kommt das in der sogenannten Dāmodara-Līlā Kṛṣṇas zum Ausdruck. Da wird Kṛṣṇa im Verlauf des Spiels nicht etwa bloß im Herzen, sondern vor aller Augen durch die gewaltige Kraft der Premabhakti eines Seiner Ewig-Beigesellten gebunden.

Die Śāstras berichten von dieser Līlā und geben damit denen, die dienend und mitdenkend zuhören und ihr eigenes Wohl und Wehe dabei ganz vergessen, einen Einblick in das innere Leben Gottes. Einen vollen Monat widmen viele Kṛṣṇa-Bhaktas in Indien alljährlich der Betrachtung, dem Gesang und der Erörterung dieser Dāmodara-Līlā. Dieser Monat heißt deswegen der Monat Dāmodara. Die anderen nennen den Monat Kārtika, er entspricht ungefähr unserem November.

Die folgende Nacherzählung der Dāmodara-Līlā gibt die entsprechenden Berichte in Bhāgavatam (10.9), in der Gopāla-Campū und der Ānanda-Vṛndāvana-Campū wieder.

Als sich die Dāmodara-Līlā ereignet, offenbart der unendliche Gott, der in Cit-Gestalt auf Erden spielt, die Kennzeichen eines Kindes von zwei Jahren und etwas weniger als zwei Monaten. Der Wohnsitz des Königs der Hirten ist ein reiches Bauerngehöft.

Etwas abseits stehen zwei mächtige Bäume, deren Stämme sich am Boden fast zu berühren scheinen, wie ein gewaltiges V, sie sind Yamala-Arjuna, die berühmten Zwillingsbäume, ein Wahrzeichen der Landschaft.

Es ist die Nachregenzeit; Rohiṇī war einer Einladung gefolgt und mit Balarāma in das naheliegende Dorf Upanandas gegangen. Nanda hatte sie dorthin begleitet und dann den Weg zu seinen weidenden Kühen eingeschlagen.

Es war eine geschäftige Zeit; das große Fest der Verehrung Indras, des Deva der Wolken und des Regens, stand bevor. Die Frauen der Hirten, die sonst so gerne zu Yaśodā eilten, hatten vollauf in ihren Häusern zu tun. Ursachlos, einer plötzlichen Regung folgend, hatte Yaśodā ihre vielen Mägde mit verschiedenen Aufträgen fortgeschickt, sie, die stets so eifrig waren, ihr und damit Kṛṣṇa zu dienen. Gegen ihr besseres Wissen war es Yaśodā heute in den Sinn gekommen, daß die geschickten Mägde die Arbeit für Ihn keineswegs so gut zu tun vermochten wie sie selbst. Sie war mit Kṛṣṇa allein.

Leise schritt sie zu Seinem Bett. Wie auf einem schimmernden weißen Wolkenbett ruhte das Kind, kräftig und doch zarter als ein weiches Blütenblatt. Sein Leib strahlt wie die von der Sonne beschienene erste Wolke der Regenzeit, grüngrau mit leichtem blau gemischt. Die Lotosse Seiner Augen sind noch nicht aufgeblüht. Mit sanfter Hand liebkost sie Ihn leise und legt Ihn in die Mitte des Wolkenbettes, damit Er in Seiner unsteten Art beim schnellen Erwachen nicht unbedacht auf die Erde falle.

Er schläft. Unbesorgt kann sie sich an die erste Arbeit machen. Auf der Veranda ist der große irdene Topf, mit saurem Rahm gefüllt, schon vorbereitet.

Sie geht hinaus, um sich ans Buttern zu machen. Von ihrem Platz aus kann sie das schlafende Kind wohl im Auge behalten.

Mit leichtem Blinzeln, den Schlafenden spielend, schaut Er ihr aus der Ferne zu: Die Mutter! Sie ist eine Frau im späten mittleren Alter, von mittelgroßer Gestalt, mild leuchtet ihr Gewand wie ein blasser Regenbogen. Ihre Hautfarbe ist der Seinen ähnlich, nur dumpfer im Glanz. Das Haar ist mit einem feinen Bande aufgebunden, ein kleiner Blumenkranz in das Nest ihrer Haare geflochten. Sie hat einen weichen aber festen Strick in ihren Händen, mit dessen Hilfe sie den großen Quirl in Bewegung hält. Das Buttern ist schwere Arbeit, doch unermüdlich ziehen ihre Hände an der Schnur. Beinahe ist sie schon ein wenig müde. Doch kann es Ermüdung geben, wenn sie für Ihn frische Butter quirlt? Leichte Schweißperlen sind bereits auf ihrer Stirn und ihren Wangen aufgetaucht. Die weißen Jasminblüten in ihrem Haar fangen an, sich zu lockern, und ihr Nacken und Hals glänzen von der Wärme der Bewegung. Die schweren Hüften zittern ein wenig.

Yaśodā quirlt den Rahm für Ihn, der durch Sein Wesen, Seine Anmut und Seine Līlā die Herzen und Sinne aller quirlt und in Aufregung versetzt, wenn sie Ihn sehen oder von Ihm hören. (
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Lange schaut Er heimlich von weitem zu. Er weiß, es ist ihre Freude, sich um Seinetwillen zu mühen. Doch plagt sie sich nicht zu sehr?

Kṛṣṇas Herz ist weich. Gott eilt herbei, wann immer einer der Seinen sich um Seinetwillen leidend müht und sich doch des Leides nicht bewußt ist. Doch hat sie wirklich nicht bemerkt, daß er bereits wach ist?

Er schluchzt ein wenig, verläßt sein Bett und eilt flink zu ihr hin. Schwer atmend, die Glieder streckend, vom Schlaf befangen, sich mit den Händchen die Augen reibend, steht er plötzlich an ihrer Seite. Sie weiß, wie sehr Er die frische Butter mag. Sie müht sich um Seinetwillen und meint, sie allein könne es so gut tun. Doch ist das alles wichtiger als Er Selbst? Flehentlich schaut Er zu der Mutter auf. Er muß ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er steht da und macht ein Gesicht, als ob Er vor Hunger ganz schwach sei. Schließlich ergreift Er den Quirl und hält dessen Bewegung auf.

„Mā, jetzt! Mach Mich nicht traurig. Gib mir Milch. Laß Mich Milch von deiner Brust trinken. Sonst … werde Ich die Töpfe im Vorratsraum alle in kleine Stücke zertrümmern!“ Er muß ihr drohen, sie übermüdet sich. – Und muß sie Ihm nicht dienen, wie Er es will? Kann jemand meinen, er könne Ihm nach eigenem Gutdünken dienen und das beste für Ihn tun und dabei Seinen unmittelbaren Wunsch übersehen? Kann sie wirklich wegen der für Ihn bestimmten Butter Ihn Selbst vergessen? Er ist zu ihr gekommen, sie muß Ihm das geben, was Er will!

Leicht stampft Er mit den Füßchen auf den Boden. Hell klingen die feinen Spangen über Seinen zarten Fußgelenken. Er sieht wirklich sehr müde und hungrig aus. Sie gehorcht und läßt die Quirlschnüre ruhen, nimmt Ihn auf den Schoß und gibt Ihm ihre überquellende Brust.

Yaśodā steht ganz im Banne des Erlebens Gottes, der die Fülle von Anmut, Lieblichkeit und unbesorgter Ausgelassenheit ist. Doch ihr Blick erspäht in der Ferne die Milch, die für Ihn auf dem Feuer steht. Ein Windstoß hat das sanfte Feuer zu heftiger Flamme entfacht. Die dampfende Milch erhebt sich drohend. Seine Milch wird überkochen und verderben! Sie kann Ihn nicht so nahe ans Feuer mitnehmen. Es hilft nichts, auch wenn Er noch mitten im Trinken ist, sie muß Ihn hier zurücklassen und davon eilen. „Oh Kṛṣṇa, Du liebes Kind! Gedulde Dich nur einen Augenblick. Bewache den Topf mit saurem Rahm. Ich schaue schnell nach Deiner Milch und bin sofort wieder da.“ Und fort eilt sie, den enttäuschten Knaben zurücklassend.

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(2)


Ihr Herz ist ganz bei Ihm. Hilflos fällt der Milchstrom auf Yaśodās edles Gewand.

„Wie ist es möglich, daß sie Ihn verläßt?“ zürnt Er, „weiß sie nicht, daß Er Sich nie satt trinken kann, wenn Er an ihrer Brust liegt – und heute läßt sie Ihn stehen, obwohl Er nicht einmal halb satt ist? Warum vergißt sie, daß es wichtiger ist, Seine Wünsche sogleich zu erfüllen, als sich um das zu sorgen, was später einmal für Ihn bestimmt ist. Das Feuer ist Gefahr. Deshalb nahm sie Ihn nicht mit. Doch Er ist heute von Sich aus zu ihr gekommen, und sie hätte Ihn auf keinen Fall im Stich lassen dürfen.“

Tränen vor Wut in Seinen Augen, mit zitternden Lippen, auf die Er mit Seinen kleinen Zähnchen beißt, greift Er einen Stein vom Boden auf und mit zorniger Hand zertrümmert Er den Rahmtopf. Aber zu Seiner großen Enttäuschung ist nichts von frischer Butter zu sehen. So lange hat sie gebuttert, mit so viel Mühe und hat selbst Ihn darüber vergessen, der doch wartend auf Seinem Bettchen gelegen war, in der Hoffnung, daß sie zu Ihm käme, um Ihm die Brust zu geben. Kann Ihn die Mühe der Gottgeweihten erfreuen, wenn sie keine Frucht bringt? Der Topf als Instrument des sich vergeblichen Mühens um Seinetwillen, wird restlos zerstört. Mit dem Stein zerkleinert Er die großen Stücke in winzige Brocken. Mag der Gottgeweihte von neuem beginnen!

In langen Rinnsalen fließt der saure Rahm auf dem Boden der Veranda entlang, zähflüssig wie das bleiche vergebliche Mühen von einem, der Gott dienen wollte, aber es ohne eigentliche Schuld nicht vermochte.

Der Anblick dieses Ergebnisses Seines Zorns vermag Ihn nicht zu besänftigen. Doch ist nun ein wenig Furcht in Seinen Zorn gemischt. Ist Er ja nicht nur Gott, sondern auch das Kind Gott. Auch hat Ihn die mütterliche Liebe Yaśodās ganz in ihrem Bann. Es ist Sein Glückserleben, Sich ihr als das Kind unterzuordnen. Kṛṣṇa ist ganz aufgegangen in der Rolle des Kindseins. Was wird sie sagen, wenn sie die neue Bescherung sieht? Furcht und Sorge hat sich in Sein Herz geschlichen. Aber auch das Erleben von Furcht kann Seinen Zorn nicht beschwichtigen. Wenn Ihm das Ergebnis des Dienens auf diese Weise nicht zuteil wird, muß Er es Sich Selbst besorgen und es stehlen!

Umsichtig und flink begibt sich Kṛṣṇa dorthin, wo niemand Ihn beobachten kann – zum Vorratsraum, wo die geläuterte Butter aufbewahrt wird. Durch ein kleines Fenster, das Er geschickt öffnet, klettert Er in den Raum und langt kräftig zu. Hei, das besänftigt Seinen Zorn. Wenn der Gottgeweihte es ganz und gar nicht erwartet, dann kommt Er Selbst und raubt Sich, was Sein ist und der Bhakta um Seinetwillen bereitet hat. Er liebt es, die Frucht der dienenden erkennenden Liebe dann zu kosten, wenn der Bhakta es nicht weiß.

Doch ist Sein Zorn auch besänftigt, die Furcht, die sich aus Liebe zur Mutter in Seinem Herzen eingeschlichen hatte, war nicht voll ausgereift. Seine edlen Taten sind Untaten in den Augen der Mutter. Er muß fliehen. Er, vor dem als der Fülle von Majestät, Größe und Herrlichkeit alles in allen Welten sich fürchtet, vor dem die Zeit, die alle Wesen dahintreibt, flieht, in dessen Blickfeld die Māyā, die Wirkursache und Stoffursache aller Universen, nicht zu stehen wagt, Er flieht aus Furcht vor Seiner Mutter!

Wenn Er etwas will, dann muß alles Ihm zum Freund werden. Wieder wird ein Fenster in der nächsten Wand zum Freunde. Was werde ich sagen, wenn die Mutter Mich hier ertappt? Kommt sie? Nein, kein Zeichen. Er schließt das kleine Holzfenster sorgsam hinter sich zu.

Wie herrlich! Da ist ein Mörser. Und draußen auf luftigen Bäumen schwingen sich die lustigen Kinder der Affen. Er dreht den Mörser um, er bietet eine bequeme Sitzfläche. Mit der Hand kann man leicht in den Buttertopf reichen und die Affen nach Belieben füttern.

Diese Affen sind Munis, große Seher der Vorzeit, die bestimmte tiefsinnige Zweige der Veden verwalten und als Frucht ihrer einst um Kṛṣṇas willen geübten Askese und Bhakti an der Līlā der göttlichen Fülle der Anmut als Affen teilnehmen dürfen. Ihnen ist nun vergönnt, die absolute Wahrheit, Bhagavān, nicht nur zu sehen, sondern sogar durch ihre tollen Possen zu erfreuen. Kṛṣṇa von Vraja, das tiefste Geheimnis, das ihnen als Weisen unzugänglich ist, sitzt vor ihnen auf dem Mörser und teilt die lautere Butter an sie aus. Er kann gar nicht anders, Er muß die Frucht der Mühen der Seinen um Seinetwillen denjenigen schenken, die Ihm so getreu dienen. Gibt es eine größere Gnade als von dem essen zu dürfen, was Er Selbst ausgiebig kostete und so freigebig an sie austeilt?

Die Freude des Austeilens an die lustigen Affenfreunde hat Ihn fast vergessen lassen, daß Ihm die Mutter wohl schon auf der Spur sein wird.

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(3)


Yaśodā hat die Milch vom Feuer genommen und ist eiligen Schrittes dorthin zurückgekehrt, wo sie Kṛṣṇa zurückgelassen hat. Sie sieht den Schauplatz Seiner Tat. Die feinen Brocken des irdenen Topfes, der verräterische Stein, die Fußspuren des Kindes – sie weiß, wer hier Seinen Zorn ausgelassen hat. Sie lächelt. Wie gründlich hat das Kind gearbeitet! Wie traurig und ergrimmt muß Er gewesen sein, als sie Ihn verließ, war es ihr doch selbst so schwer gewesen, Ihn von ihrer Brust zu lassen. Und doch, sie muß Ihm böse sein. „Er muß lernen, daß auch Zorn nie so weit gehen darf, daß er vernichtet, was Ihm gehört.“ Zorn und Lachen mischen sich in ihrem Herzen, so wie sich in Seinem Herzen Zorn und Furcht gemischt hatten. „Er ist mein Kind. Wenn Er nicht verstehen will, muß ich Ihn mit Strenge behandeln. Er muß gehorchen lernen!“ Sie nimmt einen Stock in die Hand, nicht weil sie daran denken könnte, Ihn je zu schlagen, sondern weil sie ihren Worten diesmal durch Einflößen von Furcht stärkeren Nachdruck verleihen will.

Lächelnd macht sich Yaśodā auf und geht Seinen Sauerrahm-Fußspuren achtsam nach. Lautlos öffnet und schließt sie die Türen, bis sie aus der Ferne das beschauliche Bild vor sich sieht: Auf dem Mörser sitzend, füttert Er die jungen Affen mit der sorgsam aufbewahrten geläuterten Butter.

Leise schleicht sie sich von hinten an Ihn heran. Doch ein Dieb hat hundert Augen, der Verfolger nur zwei. Die Affen, die sich schon reichlich gesättigt hatten, schwingen sich beim Anblick der mit dem Stock bewaffneten Mutter durch das hohe Fenster auf die herabhängenden Zweige der Bäume, Kṛṣṇa entflieht. Will Er ihr erneut entkommen? Er liebt es immer, sich zu verstecken. Niemand kann Ihn wirklich dienend lieben, der nicht mit der ganzen Kraft seines Wesens ringt und sucht. Nicht nur sich Selbst, auch den Weg der dienenden erkennenden Liebe hat Er in den Worten der Offenbarung sinnig versteckt. Wer noch nicht bereit ist zu lernen, daß der leiseste Hauch des an sich und seine eigene Freude zu denken, einer dichten Wolkenschicht gleicht, die das Lichtfünklein Ātmā ganz verschleiert, so daß kein Strahl von der ewig leuchtenden Sonne göttlicher Liebe durchdringen kann, wie kann der von dem Mysterium der Fülle der Anmut, das Kṛṣṇa ist, etwas ahnen. Doch auch vor den Seinen, die ewig aus dieser Sonnenkraft heraus leben und deren eigenes Wesen selber solche Sonnenkraft ist, versucht Er, sich immer wieder und wieder zu entziehen, damit noch größere Dynamik des dienenden erkennenden Suchens und noch größeres Glück des Findens hervorbreche. Er, als die göttliche Fülle der Anmut, ist erst dann zu finden, wenn Er will. Und wenn Er nicht will, da entflieht Er sogar dem dienenden erkennenden Blicke der Seinen.

Kṛṣṇa weiß, daß Seine Taten und Untaten Ihn ihrem Herzen nur immer lieber machen. Doch nach außen drückt die Mutter nur Zorn und Mißbilligung aus und will Ihm Furcht einflößen, weil sie es so gut mit Ihm meint. Doch kann Er je Gegenstand von Unmut und Entrüstung sein, auch wenn es nur künstlicher Unmut und künstliche Entrüstung ist. Ehe sich ihr Ärger nicht erschöpft hat, wird sie suchen und rennen müssen – und Ihn doch nicht einholen können.

Die Art, wie Er in heller Flucht davon eilt, ist so bezaubernd, kaum vermag sie noch den Schein ihres Unmutes aufrecht zu erhalten. Geschwind eilt sie hinter Ihm drein. Ihr Gewand flattert, Blumen fallen aus dem Haar. Sie ruft: „Oh Du Dieb, wo willst Du hinlaufen!“ Doch Er läuft eiligst. Sie hat den Stock in der Hand. Das ist zu viel für Ihn! Der Stock bedeutet eine Beleidigung Seines Selbstgefühls und Seiner Ehre. Es ist, als wollte eine schwere langsam nach Westen treibende Wolke ein kleines vor starken Winden nach Osten fliehendes Wölkchen einholen. Auf Umwegen, von einer anderen Seite her, sucht sie Ihn zu erfassen. So lange Er läuft, ohne sich umzusehen, vermag sie Ihn nicht einzuholen; doch wenn Er sich schelmisch und zugleich voller Furcht umblickt und dadurch Zeit verliert, erfaßt sie Ihn um die Breite eines Haares.

„Bleib stehen, bleib stehen!“ ruft sie. Kann Er sich schon jetzt fügen? Kann jemand Ihm etwas befehlen, wenn Er es nicht will? Und doch, welches Glück für sie. Die Yogīs, die in harter Schulung durch lange Leben der Askese, Selbstzucht und Forschung ihren Geist bereitet haben, denen entkommt Er, die Fülle der Allmacht und Majestät, denn Er ist schneller als der beweglichste Geist und Gedanken und Worte können Ihn nicht erreichen. Doch sie, die edle Yaśodā, darf sich vom Anblick Seiner göttlichen Anmut ganz durchdringen lassen und Ihm folgen und kann Ihn sogar fast einholen.

Kṛṣṇa ist geschickt, Er weiß das Gelände wohl zu Seinen Gunsten auszunutzen. Sie ruft: „König bist Du, oh Kṛṣṇa. König der Gewitzten, der Schlauberger und Betrüger!“ Kann es einen größeren Ruhmpreis Gottes geben? Gibt es eine List, die Er nicht anwendet, wenn es gilt, die Seinen zu noch größerer Selbstaufopferung, fast bis zum Zusammenbrechen herauszufordern? Doch geht Er nicht zu weit? Ermüdet sie nicht zu sehr? Erfaßt von Mitgefühl mit der Mutter wird Kṛṣṇa Selbst atemlos, als ob Er schon am Ende Seiner Kraft wäre. Sie bittet Ihn, stehen zu bleiben. Doch Er hat Seine Bedingungen, den Stock muß sie erst aus der Hand geben. Sie atmet schwer. Er weint voll Furcht. Sie verspricht, den Stock beiseite zu lassen. Jetzt ergibt Er Sich, weinend, schluchzend, mit Seinen kleinen Händen die mit Tränen vermischte schwarze Salbe Seiner Augenlider über Sein ganzes Mondgesicht verschmierend.

Kṛṣṇa sagt mit kläglicher Stimme: „Mā, Du darfst Mich aber nicht schlagen.“ Wie könnte sie wohl! Sie weiß, es endet ja immer mit Seinem Triumph. Doch schmollend schilt sie Ihn: „Oh Du Dieb aller Diebe!“

Oh das war wieder ein herrlicher Lobpreis. Er ist ja der Dieb aller Diebe. Er stiehlt die Herzen aller derer, die von Ihm wirklich hören. Er stiehlt die Sinne aller derer, die Ihn erblicken. Er raubt den Verstand derer, die Gott bisher nur als die Fülle der Majestät, Macht und Herrlichkeit kannten. Er stiehlt denen, die es für die wahre Gnade halten, von der erkennenden dienenden Liebe zu Gott erfaßt zu werden, alle Dinge, an denen sie noch anhaften und die Seiner liebenden Verehrung im Wege stehen. Er stiehlt den Weisen und vollkommen von Unwissen Befreiten die Selbstsicherheit und die Ruhe und den Frieden des Erlebens ihrer unverlierbaren Einheit mit dem stillen Licht des Brahma, das nur der unendliche Glanz ist, der Seine Gestalt umgibt. Er raubt denen, die in Erkenntnis des Wesens des Ātmā leben, das Schwelgen in der Klarheit des Glücks, das ihr Ātmā selbst ist. Er raubt den Gottgeweihten und denen, die es werden wollen, jedes Interesse an Erlösung von der Qual der Wandelwelt. Er ist Hari (
2), der Dieb aller Diebe.

„Sag, wie zerbrach der Topf?“
„Die Strafe des Allmächtigen.“
„Wer gab den Affen Butter?“
„Er, der die Affen schuf.“

Die Mutter hört Seine Antworten, sie lächelt ob des tiefen Sinns – und doch, es ist das Plappern eines Kindes. Sie droht Ihm. Es nütze nichts, dummes Zeug daherzuschwatzen, Seine Untaten seien einer guten Strafe wert. Sie schilt Ihn, vor dem als der Fülle der Allmacht und Herrlichkeit die Weisen in Ehrfurcht mit gefalteten Händen aus der Ferne ihre Hymnen singen.

Es ist ein unerhörtes Glück, daß Yaśodā durch vollkommenen Mangel an Ehrfurcht Sein Selbst-Erleben als Gottheit der Fülle der Anmut, Lieblichkeit und unbekümmerter Ausgelassenheit immer mehr und mehr zu steigern vermag.

Ganz versunken in die Gottesliebe Yaśodās wird Er noch mehr zum Kind. „Mā, was ist Meine Schuld? Warum bist du so böse?“ Er weint und schluchzt und immer stärker bricht Seine Anmut durch. „Mā, du bist so schnell fortgelaufen, um die Milch zu retten. Du weißt gar nicht, daß deine schweren Fußspangen an den Topf schlugen, und so ist er zerbrochen. Warum schiltst du Mich? Was kann ich dafür, daß Gott die Affen hierher kommen läßt und sie die Butter stehlen. Ich habe Mein Bestes getan. Ich versuche jedes Mal, die Affen zu fangen.“ Verstohlen schaut Er mit einem schnellen Blick auf Seine Hände – ja sie sind ganz sauber. Er hat sie bei Seiner langen Flucht geschickt an den Wänden abgewischt. „Als Ich dich mit dem Stock in der Hand sah, da bin ich voll Angst fortgelaufen.“

Kṛṣṇa ist noch immer voll Furcht, Sein kleiner Leib bebt vor Angst, Sein Händchen zittert in ihrer großen Hand. „Oh, wie war Er erschrocken, als sie Ihn doch von hinten eingeholt und erfaßt hatte.“ „Ja, es ist ja ganz unmöglich“, denkt sie. „Er ist ja viel zu klein, um den schweren Topf mit einem Stein zu zertrümmern. Sie hat ihn wohl selbst durch Unbedachtsamkeit in der Eile zerbrochen. Vielleicht hat Er wirklich die kleinen Affen in Seiner Dummheit nur haschen wollen. Ich habe Ihm im Übereifer wohl Unrecht getan.“

Doch sie darf das nicht zugestehen. Er ist ihr Kind. Er tut zu tolle Streiche, täglich, stündlich. Er muß gehorchen lernen. Er muß in Zucht gehalten werden.

„Dein loses Mündchen ist ein Meister in allen geschickten und schlauen Ausreden. Du Dieb aller Diebe! Du siehst wie ein Kind aus. Doch im Spielen mit den Äfflein bist Du von ihnen angesteckt worden und führst Dich Selbst wie ein Äfflein auf!“

Das war zu viel! Voll Furcht – und zugleich ihr einen neuen Schrecken einjagend – plappert Er: „Mā, da will Ich dann wie ein Äfflein in den Wald laufen und dort bleiben.“

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(4)


Das gab ihr zu denken. „Er bringt es fertig, wirklich in den Wald zu laufen, weil ich Ihn Äfflein nannte. Die Mägde habe ich alle fortgeschickt. Um Seinetwillen harrt meiner vielerlei Arbeit. Laß ich Ihn frei, läuft Er am Ende wirklich in den Wald. Das Beste ist, ich binde Ihn fest.“

Yaśodā nimmt Kṛṣṇa bei der Hand und durch den Hof schreitend, zieht sie einen schweren Mörser der Länge nach am Boden liegend, schmal in der Mitte, wuchtig und breit an den Enden. Der kommt ihr gerade recht.

„Hör zu, Du Dieblein! Alle Tränen nützen Dir nichts vor Deiner Mutter! Du hörst nicht auf meine Worte. Ich werde Dich festbinden und ins Haus gehen und mich schnell an meine Arbeit machen.“

„Mich binden!?“ In Angst, Zorn, verzweifelt um Sich schauend, mit lauter tränenreicher Stimme ruft Er: „Mā, Mā Rohiṇī! Mā, wo bist du? Wo ist Balarāma. Komm, komm schnell, Mutter will Mich festbinden. Komm schnell!“

Doch Rohiṇī und Balarāma sind nicht in ihrem Hause im Norden des Hofes. Sie waren fortgegangen und Sein Rufen kann ihre Ohren nicht erreichen. Rohiṇī liebt Ihn mehr als ihr eigenes Kind. Sie hätte Ihn vor dem Gebundenwerden bewahrt. Wenn Balarāma da wäre, würde die Mutter Ihn anweisen, nach Ihm zu schauen, wie sie es ja oft tat.

Doch andere Frauen aus den benachbarten Häusern hören Sein Rufen. Eine nach der anderen eilt herbei. Sein Anblick versetzt sie alle in Freude und Verwunderung zugleich. Da war Er also, der kleine Dieb, der so oft in ihre Häuser lief, und Sich unbeobachtet glaubend, Butter und Süßigkeiten stahl und mit ihren Kindern gefahrvolle Spiele spielte. Wie oft waren sie schon zu Yaśodā gekommen, um sich zu beklagen. Doch jedesmal verstand Kṛṣṇa so vollkommen den Unschuldigen zu spielen, daß Yaśodā, statt Kṛṣṇa zu schelten, nur mit ihnen unzufrieden wurde. Eigentlich wollten sie sich auch gar nicht beklagen. Sie hatten ja ihre heimliche Freude, wenn Er Sich in ihre Häuser einschlich und Seine Streiche ausführte. Oft hatten sie Ihn aus einem Versteck beobachtet. Sie konnten sich ja gar nicht satt sehen an Seiner Anmut, wie Er, die Hände und den Mund voll geraubter süßer Lust, eines Tages Sein Spiegelbild in einer glatten Säule im Hause sah und es für einen Seiner Kameraden hielt und sagte: „Psst! Schweig still! Komm, iß die Hälfte, du darfst Mich nicht verraten.“ Können sie das je vergessen? Wie traurig waren sie, als sie hörten, gestern ist Er im Nachbarhaus gewesen und hat diese und jene Streiche angestellt. Oh, warum nicht in meinem Haus? So dachten sie immer, doch nach außen hin beklagten sie sich und schalten Ihn „Dieb“ und „Bösewicht“. Er war ja ihr Ein-und-Alles und alles war Sein und sie alle waren Sein. Die Fülle der Gott-Anmut hält sie in Bann, sie sind bewahrt vor der Erkenntnis Seiner Allwissenheit und Allmacht, die in diesem Kinde immer gegenwärtig ist. Von Ewigkeit her besteht ihr Ātmā, ihr Herz, ihr Leib, ihre Sinne und alles, was sie haben, ganz aus Sein, Erkenntnis und Glück und es ist ihnen von Ewigkeit her eigen, Ihn als die Fülle der Anmut erkennend zu lieben. Mit jedem Wort, Gedanken, Blick, mit jeder Tat dienen sie Ihm.

Da schreit Er also in Seiner Verzweiflung, nach Rohiṇī ruft Er. Da muß etwas Besonderes vorgefallen sein. Er muß wohl wieder etwas angestellt haben. Neugierde ist ein dumpfes Laster in der Wandelwelt; doch ihre Neugierde um Kṛṣṇas willen ist Ausdruck unendlicher dienender, erkennender Gottesliebe.

Sein wiederholtes lautes Rufen nach Rohiṇī und Balarāma war ein herrlicher Vorwand, zu Ihm hineilen zu dürfen.

Da hatte Ihn also die Mutter fest in der Hand, nahe beim Mörser. Seine Angst, Seine Tränen, Seine in Furcht, Unwillen und Zorn rollenden Augen erweckten aller Mitleid. Und doch ist eine Genugtuung in ihren Herzen. Verständnisvoll lächelte eine der anderen zu: „Da ist der Dieb schließlich doch im eigenen Hause ertappt worden!“ Und zur Mutter hinschauend, sagt ihr Blick: „Du hast uns nicht glauben wollen. Nun hast du Ihn heute selbst bei Seinen Unarten überrascht. Doch wußten sie auch, es ist Liebe, die Yaśodā heute so streng macht. Sie sehen es ein, sie kann gar nicht anders, die Mutter muß Ihn bestrafen, so wehe es ihr selbst tut und so sehr sie alle mit dem schluchzenden Knaben mitfühlen.

Yaśodā nimmt aus ihrem bereits in Auflösung begriffenen Haar ein feines seidenes Band, um es um Seinen zarten Leib zu legen und Ihn am Mörser festzubinden. Erstaunlich, das Band ist zu kurz. Flink nimmt sie ein anderes Band, das noch in ihrem Haar ist und knotet es mit dem ersten zusammen. Doch es ist um die Länge von zwei Fingern zu kurz. Verwundert schaut sie auf das Kind. Vom wilden Laufen waren sie beide erschöpft; doch was half es, Sie darf ihrer Ermüdung nicht nachgeben. Alles um Kṛṣṇas willen, auch wenn es Ihm in Seinem Unverstand weh tut und ihr noch unendlich viel mehr. Ihr Blick fällt auf die Frauen, die sie bisher gar nicht beachtet hatte. Sie bittet sie, doch schnell aus ihren Häusern von den feinen weißen Schnüren zu bringen, wie sie sich zum Quirlen des Rahms immer in reichlicher Auswahl in jedem Hause finden.

Eine Frau bringt eine Schnur – zu kurz. Eine andere Frau bringt eine – immer noch zu kurz! Sie bringen die edelsten Schnüre, weich und doch fest, Oh wie herrlich, sie dürfen Ihm und Seiner Mutter zugleich dienen. Das Beste im Hause ist ja Sein. Yaśodā ist geschickt im Binden. Das eilende Laufen und Kommen der Frauen zieht andere Frauen an, die mit ihren kleinen Kindern herbeieilen und Schnüre bringen und sich der Gelegenheit freuen, Ihn so ganz aus der Nähe und ausgiebig sehen zu dürfen. Die Kinder schauen mit großen verwunderten Augen auf ihren Kṛṣṇa, ihren Führer, Freund und Helden. Sie alle fühlen ganz mit Ihm mit. Doch sie können kaum erfassen, was geschieht. Wer könnte es? Band um Band wird aneinander geknüpft, sorgsam, flink und immer und immer wieder fehlen zwei Fingerlängen, um es um Sein Bäuchlein binden zu können.

Das wunderbare Kind! So lange Er nicht will, kann irgend jemand Ihn binden? Eine andere Frau hätte schon längst aufgegeben. Die Frauen schauen Yaśodā an: „Gib es auf. Irgend ein geheimes Wunder ist am Werk. Da ist irgend ein Geheimnis. Die lange geknotete Schnur reicht um dein ganzes Haus aber nicht um den Leib des Kindes!“ Er ist das kleine Kind, nichts hat sich an Ihm verändert. Sie sehen es alle mit ihren Augen. Die festen langen Schnüre können Seinen zarten Leib nicht binden.

Leise lächelnd sagen die Frauen zur Mutter: „Herrin von Vraja! Die Anmut des Diebes verzaubert alle. Bist du Seiner Zauberkraft zum Opfer gefallen?“

Doch die Mutter erwidert – noch ist ihr alles wie ein seltsamer Spaß: „Was schwätzt ihr da! Ich weiß wohl, daß ihr sagt, was nicht in euren Herzen ist. Ihr tut, als ob ihr entrüstet wäret, doch im Herzen seid ihr auf der Seite Kṛṣṇas, den ihr nur dem Anschein nach ‚Dieb‘ scheltet. Ihr habt da sicherlich eine geheime Zauberkraft, die ihr anwendet, damit ich Ihn nicht binden kann.“

Lachend antworten die Frauen: „Nein, wirklich nicht! Wir wissen nichts von solchen geheimen Kräften.“

Die Mutter schenkt ihren aufrichtigen Worten Glauben. Es fällt ihr ein, daß der Weise Garga (3), der das Kindlein in seinen Armen gehalten hatte und Ihm Seinen Namen gegeben hatte, von einer großen göttlichen Kraft gesprochen hatte, die dem Kinde immer nahe sei. „Diese Kraft ist es wohl, die dem Binden im Wege steht. Das Kind weiß gar nichts davon.“ Und auf das noch immer weinende und unmutige Kind schauend, wird sie stärker und stärker in ihrem Vorsatz. Er ist mein Kind, wenn ich Ihn heute triumphieren lasse, wird Er nie gehorchen und nie lernen, sich als der Sohn des Königs von Vraja würdig zu benehmen, und am Ende wird Er nur Sich Selbst schaden.“ Sie befiehlt mit ihrem Blick, noch mehr Schnüre zu bringen und noch eifriger macht sie sich ans Werk.

Er Selbst ist die einzige und wahre Bindung, der Freund aller. Wie kann eine Bindung den binden, der Selbst die Bindung aller ist. Er Selbst als Fülle von Anmut hat alle in Vraja von Ewigkeit her durch Seine eigene Erlebens- und Erkenntniskraft mit Sich Selbst zu einer unendlichen Einheit verbunden. Er Selbst als Fülle der Majestät hat alle in Vaikuṇṭha zu einer ebensolchen Einheit verbunden. In einer Teiloffenbarung Seiner Selbst hat Er als Viṣṇu durch Seinen bloßen Blick aus der Ferne alle Universen im Schoße der Māyā unabtrennlich mit Sich verbunden. Alle Ātmās, die in Gottvergessenheit in den Welten selbstvergessen umherirren, sind mit Ihm, dem sie alle begleitenden Paramātmā, untrennbar verbunden. Und doch Kṛṣṇa, die Fülle der Anmut ist ihr Kind und sie Seine Mutter, sie muß Ihn binden können, wenn sie sich nur recht müht.

Sie erlebt, daß alle Schnüre nicht ausreichen. Auch als Fülle der Anmut hört Kṛṣṇa nie auf, die Fülle der Unendlichkeit zu sein, nur wird sie nur selten offenbar. Hier wird sie offenbar; und doch, Seine Fülle der Anmut und ihre dienende erkennende Liebe zu Kṛṣṇa ist so stark, daß sie Seine Mutter verzaubert und sie die Unendlichkeit der Fülle Seiner Allmacht gar nicht erlebt. Für sie ist Er immer ganz das Kind. Doch auch als Kind ist Er voll und ganz die aus Sein, Erkenntnis und Glück bestehende, räumlich und zeitlich unbegrenzte Unendlichkeit; Kind und Unendlichkeit, beides zu gleicher Zeit. Yaśodā im Bann der dienenden erkennenden Liebe zur Fülle der Anmut – und Er im Bann dieser Liebe – da ist gar keine Gelegenheit zur Wahrnehmung Seiner Unendlichkeit. Doch wenn und so lange Er Sich nicht binden lassen will, ist diese Unendlichkeit dennoch offenbar und deshalb gelingt ihr das so einfache Werk des Bindens nicht.

Die Frauen haben schon längst die Hoffnung aufgegeben, daß Seine Mutter siegreich sein könne. Nicht aus Furcht gehorchen sie der Herrin von Vraja und bringen eilends neue, neue Schnüre herbei, auch nicht weil sie dem noch immer weinenden Kṛṣṇa eine Strafe wünschen, nein, sie sind vom dienenden Eifer der Yaśodā angesteckt und sie sind voll Spannung, wie die Geschichte enden mag. Mit verwunderten Augen schauen die kleinen Knaben sprachlos zu. Ihr Kṛṣṇa, auch wenn Er weint und hilflos ist, Er ist noch immer der große Held, unüberwindbar, unbesiegbar. Die Frauen schauen ernst auf die Mühe, die sich ihre Herrin macht. Und doch lächelt ihr Herz, denn sie trinken mit ihren Augen die Anmut des Knaben und erfüllen damit den Sinn ihrer Augen. Doch offen können sie nicht lachen, denn sie müssen um Kṛṣṇas willen immer Seine Mutter, die Herrin ehren.

Yaśodā ist fast am Ende ihrer Kraft. Und doch läßt ihr Eifer nicht nach. Kṛṣṇa schluchzt, die Mutter hat noch immer nicht aufgegeben, Ihn Seiner Spielfreudigkeit berauben zu wollen. Seine Knabenfreunde weinen aus Mitgefühl mit Ihm.

Längst sind die letzten Blumen aus Yaśodās Haar gefallen. Ihr Haar ist aufgelöst. Sie ist von der Anstrengung ganz atemlos, ihr Leib zittert, in Schweiß gebadet; fast fühlt sie sich von ihrem Kind besiegt. Doch sie darf nicht nachgeben. Größerer und größerer Eifer treibt sie an. Ja, es ist wie eine göttliche Begeisterung in ihr. „Wenn es das Leben kostet, ich muß alles tun, was ich für Ihn tun kann und ich muß Ihn festbinden!“ Alle im Umkreis stehen mit offenen Mündern; wie wird das enden?

Mit Seinen in Tränen schwimmenden Augen wirft Er einen Blick auf Seine Mutter: „Die Gute, sie hat die unendliche Anstrengung in Freude auf sich genommen, um Seinetwillen, weil sie Ihn so liebt.“ Ein Gedanke, ein Strahl Seiner Gnade – Er willigt ein, sie darf Ihn binden. Sie hat sich nicht gescheut, ihre letzte Kraft zu geben. Solche Liebe allein kann Ihn binden. Von ihr gebunden zu werden, es ist so leicht, wenn Er will. So lange Er nicht wollte, war die Offenbarung der Unendlichkeit der Fülle da, jetzt hörte sie auf, wirksam zu sein.

Zwei Fingerlängen waren die Schnüre zu kurz gewesen. Seine Unwilligkeit veranlaßte die Kraft des Spiels, die Unendlichkeit, die Unbegrenztheit von Zeit und Raum, die dem Kind immer eigen ist, offenbar zu machen. Seine Willigkeit veranlaßte die Kraft des Spiels, die Unendlichkeit, die das Kind immer ist, unoffenbar zu machen. Er wurde willig, als Seine Mutter die größtmögliche Anstrengung machte und am Ende ihrer Kräfte war. Solche Anstrengung ruft Seine Gnade herbei.

So ist es im Leben und Streben aller, die ewiglich die Seinen sind und auch aller, die von der dienenden erkennenden Liebe erfaßt werden und den Seinen und Ihm dienen wollen. Anstrengung bis zum Letzten und Seine Gnade, ohne diese beiden ist alles Gottdienen umsonst. Das gilt nicht bloß für die höchste Stufe Seiner Ewig-Beigesellten, die im Reiche der Fülle der Anmut, Lieblichkeit und unbedachter Ausgelassenheit mit Ihm spielen, sondern für jede Stufe.

Der Mutter Glück ist das restlos sich um Kṛṣṇas willen verbrauchen dürfen, in sich stetig steigerndem Eifer sich um Kṛṣṇas willen ganz zu vergeuden. Kṛṣṇas Glück ist das Erleben der Stärke der dienenden erkennenden Liebe der Seinen um Seinetwillen. Durch sie erlebt Er die unerschöpfliche Tiefe Seiner Selbst als Fülle von Anmut, Lieblichkeit und Ausgelassenheit dann am stärksten, wenn trotz der Offenbarung der vollen göttlichen Unendlichkeit, die Er als Kṛṣṇa immer ist, unter dem Zauber Seiner Anmut diese Unendlichkeit gar nicht wahrgenommen wird. Kann es für Kṛṣṇa, das Kind, ein größeres Glück geben als von Seiner Mutter gebunden zu werden?

Sie band Ihn an den Mörser, Ihn, der weder innen noch außen hat, um den also nie ein Band geschlungen werden kann. Er ist zeitlich und räumlich und der Substanz nach unbegrenzte unendliche Ewigkeit. Der ‚Schatten‘, das heißt, alles was in unserer Welt ist, berührt Kṛṣṇa niemals, weder Ihn, noch die Seinen, noch irgend etwas in Seinem Reiche. So wie die Häuser, Blumen und Tiere sind auch die Bänder dieses Reiches ganz aus reiner Erkenntnis geformt. Deshalb können sie Ihn am Ende binden.

Alles Sein gründet in Ihm. Deswegen ist Er „das Sein, das von nichts abhängig ist, das nie eines Zweiten außer Ihm Selbst bedarf,“ und deshalb heißt Er der Zweitlose, Advaya. Menschliches Sinnen und Denken kann Ihn nie erfassen, deshalb heißt Er Adhokṣaja. Seine Gestalt, auch wenn Er auf Erden wandelt, ist nicht aus dem Stoffe geformt, aus dem die Universen stammen, deswegen heißt Er Avyakta. Er als Fülle der Anmut ist zweiarmig, hat also die Kennzeichen eines sterblichen Menschen, ohne jedoch ein Mensch zu sein oder einen sterblichen Leib zu besitzen. Die menschliche Gestalt ist Ihm ähnlich, wie ein Schatten der Gestalt ähnlich ist, die den Schatten wirft. Yaśodā hat von Ewigkeit her die immer währende Liebe der Mutter zu Ihm ohne Seine Mutter zu sein. Sie, die aus Ihm stammt, hat die liebende Erkenntnis der Fülle der Anmut, die Er Selbst ist, und dieser erkennenden Liebe sich als Kind unterordnend, erlebt Er sich Selbst als Fülle der Anmut. Sie bindet Ihn, als ob Er bloß das Kind wäre, als ob die in Ihm immer vorhandene Unendlichkeit gar nicht existierte. Doch darin geht ihre ewige Gotterkenntnis nicht irre, denn Er ist zu gleicher Zeit die Einheit der unserem Denken unvereinbaren Gegensätze: Kind und Unendlichkeit.

Er, aus dem alles stammt, Er, der immer unabhängig ist, fügt sich der dienenden, erkennenden Liebe der Seinen. Er gerät unter die Gewalt Seines eigenen Dieners, der eine Form Seiner Selbst ist. Er, dem unendlich viele Universen mit ihren Schöpfern untertan sind, erlebt es als Glück, von der Mutter an den Mörser gebunden zu werden. Diese Gnade, Ihn binden zu dürfen, wurde der Yaśodā zuteil. Sie verkündet und verbreitet damit den Ruhmpreis Gottes, daß Er dem Bann der restlos sich aufopfernden, dienenden, erkennenden Liebe erliegt. Doch binden kann Ihn, das unendliche Kind, nur Yaśodā. Und binden kann Ihn, den Jüngling, der alle Unendlichkeit ist, nur Rādhā.

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(5)


Yaśodā hat ihr wundersames Werk beendet. Er hat keineswegs aufgehört zu weinen. Er hat sich binden lassen. Er ist ganz das bestrafte Kind. Die Mutter betrachtet ihr Werk mit einem Blick des Triumphes und dieser Blick ist Ihm das Schönste. Er wollte ja diesen Triumphblick sehen; es war ja eigentlich gar nicht ihr Triumph, es war ja ein Triumph um Kṛṣṇas willen.

Kurz blickt Yaśodā in die erstaunten Gesichter der verdutzten Frauen, die ihren Augen kaum trauen wollen. Sie hat Ihn also schließlich doch binden können! Ehe sie aufbricht, um sich an ihre Hausarbeit zu machen, wendet sie sich auch noch an die kleinen Freunde Kṛṣṇas und sagt zu ihnen: „Schaut Ihn euch gut an. Paßt auf Ihn wohl auf. Sollte Er sich irgendwie frei machen, dann müßt ihr mich schnell rufen, verstanden?“ Und mit dem Schwarme der Frauen verschwindet sie vom Schauplatz und läßt den noch immer weinenden Kṛṣṇa, an den wuchtigen Mörser fest gebunden, mit Seinen Freunden zurück.

Die Dāmodara-Līlā ist noch nicht zu Ende. Allmählich hört Kṛṣṇa zu weinen auf, aber Er befreit sich nicht vom Band der Liebe, das Ihn festhält und das Sein Stolz ist. Jedoch Mörser und Schnur sind zu einem neuen lustigen Spiel geworden. In Seiner Spielfreude schleift Er den gewaltigen Mörser wie ein leichtes Kinderwägelchen hinter sich her und jubelnd läuft die Schar der Freunde mit Ihm. Kṛṣṇa marschiert geradewegs auf das sich aufreckende V der beiden hohen Zwillingsbäume zu, schmiegt sich leicht durch die schmale Lücke zwischen den Stämmen hindurch und von dem Mörser, den Er zieht entwurzelt, stürzen die riesigen Bäume nieder. Zwei leuchtende Gestalten entsteigen ihnen, umwandeln Kṛṣṇa in tiefer Ehrfurcht und preisen Ihn. Sie bitten Ihn um die Gabe, daß ihre Lippen immerdar Seinen Ruhm singen dürfen, ihr Ohr immerdar nur von Ihm hören, ihre Hände Ihm dienen, ihr Geist immerdar Seiner gedenken, ihr Haupt sich vor Seinem Reiche verneigen und ihre Augen diejenigen schauen dürfen, die sich Ihm geweiht haben.

Kṛṣṇa gewährt ihre Bitte und gibt ihnen das Geschenk der dienenden erkennenden Liebe zu Ihm.

Es sind die beiden Barden Madhukaṇṭha und Snigdhakaṇṭha, die einst durch einen Fluch (der ein heimlicher Segen war) verzaubert worden waren und die nun durch Kṛṣṇa, obwohl Er Selbst gebunden war, von allen Banden befreit wurden. Im Versammlungshaus des ewigen Reichs Goloka berichten sie dann vor dem staunend lauschenden Elternpaar Yaśodā und Nanda und vor Kṛṣṇa und Rādhā und den Gopas und Gopīs im Wechselgesang von den mannigfaltigen Begebenheiten der seltsamen Līlā Kṛṣṇas auf Erden.

Die Bewohner von Vraja gaben damals Kṛṣṇa einen neuen Namen: Dāmodara. Das bedeutet: Mit der Schnur (dāma) (
4) um den Leib (udara).

In einer Hymne des Padma Purāṇa wird die Dāmodara-Līlā Kṛṣṇas geschildert. Die acht Strophen der Hymne werden von den Bhaktas jeden Morgen und Abend im Monat Dāmodara rezitiert. Die letzte Strophe beginnt mit einer Huldigung an die Schnur, von der jedes kleinste Fäserchen nicht aus dem Stoffe der Māyā, sondern aus Cit-Śakti, aus der Kraft der dienenden erkennenden Gottesliebe Yaśodās geformt ist und die den Leib des Kindes Kṛṣṇa, der die Unendlichkeit selber ist, zu binden vermochte:

Verehrung Dir, der Schnur,
Deiner (eigenen) Macht (der Liebe,)
die strahlend leuchtet.
Verehrung Deinem Leib,
dem Urgrund des Weltalls.
Verehrung der Rādhā,
die Deine Geliebte ist.
Verehrung Dir, oh Gott,
der Du unendlich viele Līlās spielst! (5)


Anfang


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(1) Einer der Gottesnamen Kṛṣṇas ist Manmatha, d.i. der den Geist quirlt, der Liebesgott. zurück
(2) Das Wort Hari wird von den altindischen Grammatikern hergeleitet von der Wurzel hṛ, wegziehen, stehlen; harati heißt: er zieht weg.
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(3) Śrīmad-Bhāgavatam 10.8.7–20.
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(4)
Das Sanskritwort dāma (dāman) bedeutet auch eine Girlande von Blumen. zurück
(5)
namaste ’stu dāmne sphurad-dīpta-dhāmne
tvadīyodarāyātha viśvasya dhāmne
namo rādhikāyai tvadīya priyāyai
namo ’nantalīlāya devāya tubhyam