Kapitel 1
Was ist Bhakti?

Bhakti kann kaum mit materiellen Begriffen erklärt werden, da sie transzendental ist. Śāṇḍilya beschreibt Bhakti als die innig liebende Anhaftung an Gott (parānuraktir-īśvare).“ (1) Rūpa Gosvāmī beschreibt sie als das harmonische Streben nach Kṛṣṇa; ein Streben, das weder von Jñāna und Karma berührt noch vom Verlangen nach irgendetwas anderem gestört wird. (2) Nārada beschreibt sie als in Worten nicht faßbare Liebe zu Gott und die erhabenste aller menschlichen Erfahrungen (3), nach deren Erreichen der Mensch sich nach nichts anderem mehr sehnt. (4) Diese Freude macht ihn verrückt, und er ist im eigenen Selbst zufrieden. (5) Stets schwimmt er in einem Meer des Nektars und wird von den Genüssen dieser oder der nächsten Welt nicht angezogen; die weltlichen Genüsse erscheinen ihm wie die trüben Wasser eines schlammigen Tümpels. (6)

Bhakti ist die Funktion der Hlādinī-Śakti (7)


Diese Beschreibungen sind bloß eine allgemeine Vorstellung vom Wesen der Bhakti. Sie sagen uns nicht, was genau Bhakti ist. Erst im 16. Jahrhundert erklärt Jīva Gosvāmī, was Bhakti ist. Er definiert Bhakti als die Funktion (vṛtti) der Hlādinī-Śakti von Bhagavān (Gott). Bhagavān pflanzt die Hlādinī-Śakti in die Herzen Seiner Geweihten, so daß sie gemeinsam mit Ihm vor Freude hingerissen werden. (
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Doch woher wissen wir, daß Bhakti die Śakti Bhagavāns und nicht die des Lebewesens ist? Die Śrutischriften besagen, Bhagavān sei ewiglich unmanifestiert (avyakta). Niemand kann Ihn ohne die Hilfe Seiner Śakti erkennen. (
9) Nur jene sind imstande, Ihn zu sehen oder zu kennen, die Er Selbst erwählt – yamevaiṣa vṛṇute tena eṣa labhyaḥ. (10) Gleichzeitig besagt die Śruti, daß nur Bhakti das Lebewesen zu Bhagavān führt, daß nur Bhakti das Lebewesen befähigt, Ihn zu sehen – bhaktireva enaṁ nayati, bhaktireva enaṁ darśayati. (11) Deshalb ist Bhakti die Śakti Bhagavāns.

Bhakti gründet auf selbstlos liebevollem Dienst zu Bhagavān


Die Essenz der Bhakti besteht im selbstlos liebevollen Dienst für den Herrn. Wie die Kantsche Doktrin des Kategorischen Imperativs die Pflicht um ihrer selbst willen beinhaltet, so beinhaltet Bhakti den Kategorischen Imperativ des Dienstes um seiner selbst willen. Der Geweihte dient zur Freude des Herrn und für nichts anderes. (
12) Doch im Gegensatz zu Kants trockenem, anspruchsvollem und im Äußeren pflichtlastigen Imperativ ist der Kategorische Imperativ des Dienstes für den Herrn die natürliche Funktion der Seele und deshalb in sich selbst freudevoll und befriedigend. Obwohl der Geweihte zur Freude des Herrn dient, wird er automatisch auch selbst von Freude erfüllt. Genau das ist die Natur der Bhakti. Wenn aber die Einstellung des Geweihten zur Bhakti nur im geringsten Maß mit dem verborgenen Wunsch nach eigener Freude behaftet ist, wird ihm in ebensolchem Maß die höchste Freude, die aus Śuddha-Bhakti (13) entspringt, vorenthalten. Selbst jene Freude, die der Geweihte aus der Handlung seines Dienstes ohne weiteres erfahren könnte, weist er zurück, wenn sie auf irgendeine Weise seinen Dienst behindern würde.

Es ist bedauerlich, daß die Vorstellung des Dienens von jenen, die Schwierigkeiten haben, sie mit ihrem Ego in Einklang zu bringen, nicht richtig verstanden und geschätzt wird. Sie glauben, der Pfad der Bhakti sei ausschließlich für intellektuell Schwache und vom Wesen her Unterwürfige bestimmt. Sie können nicht verstehen, daß in der spirituellen Welt, wo Liebe die höchste Herrschaft ist, Dienen Lieben heißt, und wer liebt, der herrscht. In Liebe wird die Aufopferung des Selbst zur Selbstverwirklichung, und die Selbstaufgabe zur Erfüllung des Selbst. Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Jeder Partner einer Liebesbeziehung fühlt sich ohne den anderen unvollständig; er möchte ihm noch mehr näherstehen und ihn durch Liebe und Dienst vollständig erobern. In der Liebesbeziehung der Bhakti ist der Herr der Partner, der Sich ohne die Gemeinschaft Seines Geweihten unvollständig fühlt. Er bindet Sich ganz fest an Seinen Geweihten, um Sich durch die Liebe und den Dienst zu ihm vollkommener zu erkennen. Der Herr genießt größere Freude, wenn Er von Seinem Geweihten beherrscht wird, als wenn Er über ihn gebietet. (
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Bhakti ist eine spirituell anziehende Kraft, die an zwei Enden wirkt


Bhakti ist eine spirituelle Anziehungskraft, die auf zwei Arten wirkt. In unserem Herzen entwurzelt sie alle selbstbezogenen Antriebe, die uns vom Herrn wegtragen, und setzt die eingliedernden Kräfte frei, die zur vollständigen Hingabe all unserer Fähigkeiten führt, so daß unser Wissen, unsere Liebe und unser eigener Wille in vollkommener Harmonie mit dem göttlichen Rhythmus sind. In Kṛṣṇa regt Bhakti die göttliche Gnade an und setzt die Kräfte der Wiedervereinigung frei, die zur endgültigen Eingliederung unseres Wesens in den göttlichen Willen führt. Kṛṣṇa bestätigt das, als Er Arjuna ermahnt und ihn auffordert, sich dem Willen Gottes völlig zu ergeben und ihm verspricht, Er werde ihn, sofern er auf diese Weise handle, von allen Bindungen und Sünden befreien. (
15) Das ist das Prinzip der göttlichen Gnade, die Bhakti ausmacht.

Man mag sich fragen, inwieweit das Prinzip der göttlichen Gnade mit dem transzendentalen, selbstgenügsamen Charakter des göttlichen Wesens, das von Prakṛti [materielle Natur] unberührt bleibt und wunsch- und motivlos ist, in Einklang gebracht werden kann. Die Antwort findet man in der Natur der Bhakti. Bhakti ist nicht bloß eine Erscheinung. Sie ist die Wirkungsweise der Hlādinī-Śakti Bhagavāns. Wie wir gesehen haben, spornt sie sowohl Bhagavān als auch den Bhakta, den Geweihten, an. Genauso wie eine Lampe sich selbst und andere Objekte sichtbar macht, spendet Bhagavāns Hlādinī-Śakti, nachdem sie von Ihm in das Herz eines reinen Geweihten gepflanzt worden ist, sowohl Ihm als auch dem Geweihten Glückseligkeit. In Wirklichkeit genießt Bhagavān, der höchste Genießer der Freude (rasika-śekhara), die Glückseligkeit, die aus der Hlādinī-Śakti im Herzen Seines Geweihten entspringt (śaktyānanda), noch mehr als die Freude, die aus der Natur Seines Eigenen Selbst hervorströmt (svarūpānanda). Aufgrund der Anziehungskraft der Hlādinī-Śakti wird der Bhakta zu Bhagavān hingezogen und Bhagavān zum Bhakta. Auf diese Weise gibt sich der Bhakta Bhagavān und Bhagavān Sich dem Bhakta hin. Gnade ist nichts anderes als die Hingabe Bhagavāns zum Bhakta.

Das gesamte spirituelle Leben wird vom Gesetz der Harmonie beherrscht, das in der Liebe seine höchste Ausdrucksform findet. Bei uns offenbart sich das Gesetz der Harmonie in Form unserer bedingungslosen Hingabe und bei Kṛṣṇa in Form Seiner göttlichen Gnade. Im Yoga der bedingungslosen Hingabe (bhakti-yoga) zupft die Seele an einer göttlichen Saite und genießt eine innere Harmonie der höchsten Ordnung sowie Sicherheit und Ausgeglichenheit, die jenseits jeglicher intellektueller Auffassung liegt. (
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Bhakti ist das einzige Mittel, um Bhagavān zu erreichen


Śrī Kṛṣṇa sprach zu Uddhava:

na sādhayati māṁ yogo na sāṅkhyaṁ dharma uddhava |
na svādhyāyas tapas tyāgo yathā bhaktir mamorjitā ||


Nie wird es möglich sein, mich durch Jñāna, Yoga, Entsagung, Buße, Schriftstudium oder die Ausführung von Pflichten derart zu erlangen, wie durch Bhakti. (Śrīmad-Bhāgavatam 11.14.21)

Er sagte auch:

sādhavo hṛdayaṁ mahyaṁ sādhūnāṁ hṛdayaṁ tv aham |
mad-anyat te na jānanti nāhaṁ tebhyo manāg api ||


Die Geweihten sind Mein Herz, und ich bin das Herz Meiner Geweihten. Sie kennen nichts außer Mich, und Ich kenne nichts außer ihnen. (Śrīmad-Bhāgavatam 9.4.68)


ahaṁ bhakta-parādhīno hy asvatantra iva dvija |
sādhubhir grasta-hṛdayo bhaktair bhakta-jana-priyaḥ ||


Ich besitze keine Freiheit, denn ich bin vollkommen von Meinen Geweihten abhängig, als ob sie Mich stets im Griff hätten. (Śrīmad-Bhāgavatam 9.4.63)

bhaktyā mām abhijānāti


Nur mittels Bhakti werde Ich vollständig erkannt. (Bhagavad-Gītā 18.55)

Śrī Caitanya Mahāprabhu erwähnt auch, daß Jñāna, der Weg des Wissens, Karma, der Weg der Handlung, und Yoga nicht zum gleichen Ziel wie Bhakti führen. (
17) Jñāna, das aus Unterscheidungsvermögen und Überlegung besteht, führt zur Verwirklichung des Nirviśeṣa-Brahmans (18), in das die Seele eintaucht. Yoga, das aus der Praxis von Yama, Niyama, Prāṇāyāma (19) usw. besteht, führt zur Verwirklichung des Paramātmā, der ein Teilaspekt Bhagavāns ist. Karma, das aus der Ausübung von Nitya- und Naimittika-Pflichten (20) besteht, führt zur Erlangung des Himmels für den Zeitraum, wie die Wirkung der auf der Erde ausgeführten guten Taten anhält. Doch keiner dieser Wege führt zur Erlangung Bhagavāns.

Bhakti ist die Essenz aller Religionen


Um die jeweiligen Ziele von Jñāna und Yoga erlangen zu können, ist Bhakti notwendig. (
21) Ohne Bhakti kann man mit der Ausführung von Yoga nicht einmal beginnen, da Yoga den Glauben an Bhagavān, dessen Teilaspekt Paramātmā der Yogī zu erkennen anstrebt, voraussetzt. Egal, wie lange der Yogī seine Übungen und Entsagungen ausführt – all seine Bemühungen werden fehlschlagen, wenn er keine Bhakti entwickelt. Weil der Paramātmā Saviśeṣa (22) ist und wir ihn durch Yoga ohne Bhakti nicht verwirklichen können, wird Yoga zuweilen als eine Form der Bhakti betrachtet, die man als Yoga-Miśrā-Bhakti oder Śānta-Bhakti (23) kennt.

Die Notwendigkeit der Bhakti für Jñāna wird selbst von Śaṅkara anerkannt. In seinem Gītā-Kommentar schreibt er, daß Jñāna-Niṣṭhā (
24), ohne die Befreiung nicht möglich ist, ein Ergebnis von Arcana-Bhakti (25) sei. (26) Und in seinem Kommentar zum Brahma-Sūtra schreibt er: Obwohl Befreiung das Ergebnis höheren Wissens (vidyā) ist, bereitet Bhakti den Grund für höheres Wissen vor, indem sie Gottes Gnade herbeiruft. (27)

Auch ist die Verwirklichung des Nirviśeṣa-Brahmans durch Jñāna ohne Bhakti nicht von Dauer. Śrī Caitanya spricht von zwei Arten von Menschen, die dem Jñānapfad folgen – jene, die keinen Glauben in Bhagavān besitzen und danach trachten, unabhängig von Ihm das Nirviśeṣa-Brahman zu verwirklichen, sowie jene, die an Ihn glauben, aber nach Mukti (
28) streben. (29) Erstere erlangen erst nach großen Mühen das Stadium des Nirviśeṣa-Brahmans (30), doch besteht die Gefahr, daß sie wieder ein Opfer Māyās werden. (31) Letztere erlangen ihr Eingehen ins Brahman aufgrund der Gnade Bhagavāns leichter. Bhagavān läßt sie eine Zeitlang diesen Zustand genießen, bringt sie letztlich jedoch in Sein Eigenes Reich. Auf diese Weise können sie den Zustand, in Bhagavāns Nähe zu sein, genießen, was weitaus freudevoller ist als das Eingetauchtsein im Brahman.

Der Jīva ist bloß ein unendlich kleiner Teil der Taṭasthā-Śakti (
32) Bhagavāns. Der Jīva gerät manchmal unter den Einfluß Māyās, weil seine eigene Kraft begrenzt ist. Die Kraft Māyās ist als Śakti Bhagavāns unbegrenzt. Deshalb kann der Jīva ohne die Gnade Gottes die Grenzen Māyās nicht überschreiten. Wenn Jñāna, Karma und Yoga vom Jīva benutzt werden, um Māyā zu überwinden, sind sie nutzlos. Der einzige Weg, der dem Jīva offen steht, ist der Pfad der Bhakti. Kṛṣṇa Selbst sagt:

Es ist wahrhaft schwierig, Meine Māyā unabhängig von Mir zu überwinden. Nur jene, die sich Mir aufrichtig hingeben, können sie überwinden. (33)

Zwei Arten des Jñānas können zu Bhagavān führen, da es die Wolken der Unwissenheit zerstreut: Jñāna, das von höherer Intelligenz stammt und Jñāna als Ergebnis von Bhakti – die Hlādinī-Śakti Bhagavāns. (
34)
Worin auch immer der Pfad der Religion besteht – Bhakti ist für die Erlangung des Ziels grundlegend. Eigentlich gibt es nur einen Pfad der Verwirklichung, und das ist der Pfad der Bhakti – die wahre Lehre der Schriften. Für Śrī Caitanya ist diese Lehre die grundlegende Essenz der Veden. (
35) Wenn Menschen über viele Pfade der Verwirklichung sprechen, dann nur deshalb, weil ihre Intelligenz von Māyā bedeckt ist. (36) Die Intelligenz verschiedener Personen wird in dieser Welt von den drei Guṇas der Prakṛti unterschiedlich bedingt. Deshalb werden die Veden auf unterschiedliche Weise ausgelegt, und man spricht von mehreren Pfaden der Verwirklichung. (37) Bhakti ist nicht nur die Essenz der Veden, sondern die Essenz aller Religionen.

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(1) Śāṇḍilya, Sūtra 2 zurück
(2) anyābhilāṣitā-śūnyaṁ jñāna-karmādy-anāvṛtam |
ānukūlyena kṛṣṇānu-śīlanaṁ bhaktir uttamā ||
— Bhakti-Rasāmṛta-Sindhu 1.1.9
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(3) Nārada-Bhakti-Sūtra 2 – 3
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(4) Nārada-Bhakti-Sūtra 5
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(5) Nārada-Bhakti-Sūtra 6
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(6) Śrīmad-Bhāgavatam 6.12.22
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(7) die freudespendende Energie des Herrn
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(8) Prīti-Sandarbha 65
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(9) nityāvyakto ’pi bhagavānīkṣte nija bhaktitaḥ |
tāmṛte paramātmanaṁ kaḥ paṣyatomitāṁ prabhum ||
— Nārāyaṇādhyātmā-Vacana
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(10) Muṇḍaka-Śruti 3.2.3
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(11) Māṭhara-Śruti
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(12) Śrīmad-Bhāgavatam 6.12.22
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(13) reine Bhakti
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(14) Śrīmad-Bhāgavatam 9.4.64
bhaktivaśoḥ puruṣo bhaktireva bhūyasī (Māṭhara-Śruti)
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(15) Bhagavad-Gītā 18.66
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(16) O. B. L Kapoor; The Philosophy and Religion of Śrī Caitanya, S. 183
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(17) Śrī Caitanya-Caraṇāmṛta, Madhya-Līlā 20.121
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(18) das form- und eigenschaftslose Brahman
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(19) Selbstbeherrschung, Beherrschung des Geistes, Atembeherrschung
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(20) verbindliche und unverbindliche Pflichten
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(21) Śrī Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 22.14 – 15
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(22) voller Eigenschaften
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(23) mit Yoga vermischte Bhakti oder ausgeglichene Bhakti
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(24) Treue zum Wissen
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(25) Bhakti, die auf der zeremoniellen Verehrung der Vigraha beruht
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(26) Śaṅkara-Bhāṣya über die Bhagavad-Gītā 7.56
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(27) Śārīrika-Bhāṣya über den Brahma-Sūtra 3.2.5
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(28) Befreiung
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(29) Śrī Caitanya-Caritāmṛta, Madhya-Līlā 24.16
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(30) Bhagavad-Gītā 7.5
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(31) jīvanmuktā api api punarvandhanaṁ yanti karmabhiḥ |
Vāsāna-Bhāṣya zitiert im Bhakti-Sandarbha
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(32) marginale Energie
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(33) Bhagavad-Gītā 7.14
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(34) Bhagavad-Gītā 10.10 – 11
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(35) Śrī Caitanya-bhāgavata, Madhya-Khāṇḍa 1.148; 4.33
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(36) Śrīmad-Bhāgavatam 11.14.9
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(37) Śrīmad-Bhāgavatam 11.4.5 – 7
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