Kṛṣṇa sollte nicht auf das eigene Weltbild reduziert werden

Kṛṣṇa ist unendlich und unbegrenzt, weshalb Er nicht auf ein bestimmtes Weltbild beschränkt werden kann.

Einer der Namen von Caitanya Mahāprabhu ist Bhaktābhimata Rūpadhṛk (in den 108 Namen, die von Sārvabhauma Bhaṭṭācārya aufgeführt werden): „Gemäß dem Wunsch Seines Geweihten offenbart Sich Kṛṣṇa in einer bestimmten Form“. Mit anderen Worten gibt es so viele verschiedene Formen Kṛṣṇas, wie es Seelen gibt, weshalb es auch im Bhāgavatam (1.3.26) heißt: „Von Śrī Hari, der Schatzkammer reiner Tugend, gehen unzählige Avatāras hervor, genauso wie unzählige Bäche aus einem unerschöpflichen See fließen“. Der Wunsch des Geweihten bildet sich durch dessen Liebe zu Kṛṣṇa, die in ihrer Art einzigartig und vollkommen individuell ist.
Jīva Gosvāmī führt in seinem Bhāgavata Sandarbha das Vedānta-Sūtra (3.3.52) an: „Da die Verehrer unterschiedliches Wissen über den Herrn haben, unterscheidet sich ihre Wahrnehmung des Herrn.“

Als Kṛṣṇa in die Kampfarena Kaṁsas trat, nahmen Ihn die verschiedenen Gruppen von Geweihten unterschiedlich wahr:

Die verschiedenen Menschengruppen in der Arena sahen Kṛṣṇa auf unterschiedliche Weise, als Er, zusammen mit Seinem älteren Bruder, erschien. Die Ringer sahen Kṛṣṇa als gleißenden Blitz, die Menschen von Mathurā als besten unter den Männern, die Frauen als die Verkörperung des Liebesgottes, die Kuhhirten als ihren Verwandten, die unfrommen Herrscher als ihren Bestrafer, Seine Eltern als ihr Kind, der König der Bhojas als den Tod, die Unintelligenten als die Universale Form des Herrn, die Yogīs als die Absolute Wahrheit und die Vṛṣṇis als ihren erhabenen und verehrungswürdigen Herrn. (Śrīmad-Bhāgavatam 10.43.17)

Viśvanātha Cakravartī Ṭhākura schreibt in der Erläuterung zu diesem Vers, daß nach der Gemütsstimmung und dem Geschmack des Geweihten Kṛṣṇa unterschiedlich „gekostet“ wird.

Sobald jedoch eine Wahrnehmung als die ausschließlich richtige betrachtet wird, versucht man sich von den anderen Wahrnehmungen abzugrenzen, indem man diese nicht gelten lassen will. Oft werden dazu Schriftstellen zitiert, um die eigene Wahrnehmung Gottes zu untermauern. Doch alles Wissen über Gott in allen Schriften der Welt zusammengenommen ist nur ein kleiner Aspekt von der Wirklichkeit Gottes und der spirituellen Welt. Und wenn dieses Wissen neben dem Intellekt auch mit dem Herzen aufgenommen wird, kann man nur erahnen, wie die spirituelle Wirklichkeit sein könnte. Es ist als ob man in einem Raum sitzt und aus einer bestimmten Entfernung aus dem Fenster schaut. Die Reduzierung Kṛṣṇas auf das eigene Weltbild bestünde darin, dieses eine Bild der Außenwelt als die letztliche Wahrheit zu betrachten. Doch die spirituelle Wirklichkeit ist viel mehr als nur ein zweidimensionales Bild. Der Betrachter kann im Raum aufstehen, das Fenster aufmachen und hinausschauen. Dabei werden auch andere Sinne stimuliert, wie der Tastsinn, mit dem die draußen vorherrschende Temperatur gefühlt wird, oder der Geruchssinn.

Ein wirklich ganzheitliches Bild bekommt man aber erst, wenn man aus dem Haus tritt und beginnt, die ganze Umgebung zu erkunden und mit allen Sinnen aufzunehmen. Welcher Unterschied zum statischen Hinausschauen aus dem Fenster!

Die ganzheitliche spirituelle Wahrnehmung zeigt sich darin, wenn die Wahrnehmung Kṛṣṇas auch mit dem Herzen stattfindet. Wie erwähnt, ist die Art der Liebe, die eine Seele für Kṛṣṇa empfindet, einzigartig und vollkommen individuell. Dies kann auch als Grund angeführt werden, weshalb es uns überhaupt gibt. Im unendlichen Meer der Seelen mag man sich die Frage stellen, warum es ausgerechnet mich gibt, warum sollte Kṛṣṇa etwas an mir liegen? Die Antwort ist simpel. Die Art und der Geschmack der Liebe, die jeder einzelne von uns mit Kṛṣṇa austauschen kann ist so einzigartig, daß sie kein zweites Mal vorkommt. Und genau an diesem bestimmten Geschmack der Liebe ist Kṛṣṇa interessiert, weil Er ihn nur von uns bekommen kann.

Die Liebe zu Kṛṣṇa ist letztlich auch das, was jegliche Einschränkung und Begrenzung in unserer Wahrnehmung zu Kṛṣṇa auflöst. Denn Liebe kennt keine Schranken und keine Hindernisse, wenn wir sie einmal fließen lassen.

Wahre Liebe kennt auch keine Einschränkungen, daß sie nur auf eine Person ausgerichtet ist. Sie ist wie eine Sonne, die ihr Licht und ihre Wärme überallhin ausstrahlt. Und natürlich bekommen jene, die der Sonne näher sind mehr von diesem Licht und der Wärme als jene die weiter sind oder sich in einem dunklen Loch verstecken.

Die Erkenntnis, daß die Liebe jegliches einschränkendes Bewußtsein auflöst führt letztlich auch zur Erkenntnis, daß die einzige Bedingung für Kṛṣṇabhakti Bhakti ist, weshalb es auch heißt, daß Bhakti eigentlich bedingungslos ist. Mit anderen Worten sind alle Gesetze, Regeln und Regulierungen diesem einen Grundsatz völlig untergeordnet und können jederzeit durch Bhakti aufgelöst werden.